boris cyrulnik tilt magazine la résilience

«Es ist nicht das erste Mal, dass der Mensch sich mit Tragödien konfrontiert sieht»

Muss man Boris Cyrulnik noch vorstellen? Der 85-jährige Franzose ist eine Autorität auf dem Gebiet der Resilienz. Dies kommt nicht von ungefähr, wenn man bedenkt, dass seine jüdischen Eltern deportiert wurden, als er noch ein Kind war, und er den Holocaust nur dank der Hilfe verschiedener Personen und Widerstandsnetzwerke überlebte. Gespräch.

Der Neuropsychiater Dr. Boris Cyrulnik lehrt an den Universitäten Toulon (Frankreich) und Mons (Belgien) und hat zahlreiche Bücher verfasst. Für das Magazin Tilt! hat er sich Zeit genommen, um unsere Fragen zu beantworten.

Es wird viel über Resilienz gesprochen. Aber was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Wort?

Die Erklärung ist ganz einfach: Es ist die Art und Weise, wie man nach einem Trauma wieder ins Leben zurückfindet. Der wichtige Aspekt ist dabei die Wiederaufnahme der Entwicklung. Gibt es eine solche Wiederaufnahme, dann ist das Interessante daran, welche Faktoren es einem ermöglichen, nach einem Trauma eine neue Entwicklung zu beginnen.

Krieg in der Ukraine, Klimawandel, Pandemie – die Menschheit hat es derzeit nicht einfach. Wie kann man das alles psychisch überstehen?

Es ist nicht das erste Mal, dass der Mensch sich mit Tragödien konfrontiert sieht. Der Homo sapiens kennt dies seit 10 000 Jahren, seit dem Neolithikum. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Unglück und Tragödien: kulturelle Tragödien, klimatische Tragödien, Kriegstragödien, epidemiologische Tragödien. Deshalb: Entweder man erholt sich nicht, und das bedeutet dann das Ende eines Individuums, einer Gruppe oder einer Zivilisation – oder man beginnt eine Entwicklung, mit der man sich in den folgenden Monaten auseinandersetzen muss und die von vielen Faktoren abhängt, mit dem Ziel, eine neue Lebensweise anzugehen.

«Resilienz ist die Kunst der Navigation in stürmischen Gewässern.»

Ist dies kulturell bedingt? In den USA zum Beispiel wird Resilienz oft mit ihrer Bevölkerung in Verbindung gebracht.

Das Wort Resilienz ist im angelsächsischen Kulturkreis geläufig und hat vielleicht nicht ganz die gleiche Bedeutung wie im Französischen. Als Paul Claudel Botschafter in den USA war und miterlebte, wie sich während der Krise von 1929 viele Bankiers aus dem Fenster stürzten, konstatierte er auch «die erstaunliche Fähigkeit der Amerikaner, nach dem Ruin neue Projekte zu beginnen», und nannte diese Eigenschaft Resilienz. Wir haben uns diesem Konzept mehr auf der biologischen und anthropologischen Ebene genähert.

Wie sind Sie vorgegangen?

Dank des Neuroimagings weiss man, dass die Funktionsweise von Kindern, aber auch von Erwachsenen sich entwickelt. Das Wort Entwicklung ist aber unbeliebt, weil es impliziert, dass man sich infrage stellt. Dies hat auch Darwin erlebt, der wegen seines Wortes Evolution zunächst verspottet wurde. Heute sehen wir aber, dass Menschen, die bereit sind, mit dem Wort Evolution zu argumentieren, mit Menschen zusammenprallen müssen, die Gewissheit brauchen und sich auf Gott oder den Staat berufen. Was Darwin damals mit dem Konzept der Evolution vorzuschlagen versuchte, wiederholt sich heute mit dem Konzept der Resilienz.

Viele junge Menschen haben während der Pandemie gelitten. Gilt Resilienz für bestimmte Altersgruppen mehr als für andere?

In der Adoleszenz kommt es zu einer Auslichtung der Synapsen. Biologisch und mit zunehmendem Alter funktioniert das Gehirn mit weniger Neuronen besser, was ein Zeichen einer guten Entwicklung ist. Die Pandemie aber hat die Jugendlichen isoliert und diesen Prozess gestört. Sie verschanzten sich hinter ihren Bildschirmen, was die Isolation für sie zwar erträglicher machte, sie aber daran hinderte, zwischenmenschliche Kompetenzen zu erlernen. Diese Teenager haben die Auslichtung der Synapsen verpasst, und man sieht, dass sie jetzt nach der Pandemie grosse Mühe haben, die Arbeit wiederaufzunehmen. Wegen der pandemiebedingten sozialen und sensorischen Isolation haben sie nicht gelernt, schnell zu überlegen und zu lernen.

Und wie sieht es bei den älteren Menschen aus?

Ältere Menschen, die nicht mehr besucht werden durften, liessen sich sterben. Es gab dieses Slip-Syndrom, bei dem sie sich in den Tod gleiten liessen. In den medizinischen Diagnosen war oft von Dehydrierung die Rede, was auch stimmte. Aber die Dehydrierung war die Folge einer emotionalen Deprivation. Diese Menschen haben aufgehört zu essen und zu trinken, weil sie isoliert waren. Das Konzept der Resilienz gibt es also in jedem Lebensalter.

Kann der Staat die Resilienz fördern?

In den Nachkriegsjahren gab es in Frankreich fast 300 000 Waisen. Weltliche nichtstaatliche Organisationen verhalfen vielen von ihnen zu einem besseren Leben. Den Beruf des Erziehers gab es damals noch nicht. Aber eine Erziehung, die auf Zuneigung, Kunst oder Sport beruhte, ermöglichte vielen Kindern die Wiederaufnahme einer guten Entwicklung, was die Definition von Resilienz ist. In Frankreich gibt es derzeit 300 000 Kinder, die der Sozialhilfe anvertraut sind, und ihre Entwicklung ist absolut katastrophal, weil sie mit 18 Jahren auf die Strasse gesetzt werden, ohne etwas gelernt zu haben; sie sind unfähig, ihre Emotionen zu kontrollieren, lernen praxisferne Theorien und die Erziehenden sind überlastet.

Können Sie dies veranschaulichen?

Ich habe in Kolumbien und in den Favelas von Rio in Brasilien gearbeitet. Wenn man sich um die Kinder dort kümmert, kann man vielen von ihnen wieder auf die rechte Bahn helfen. Aber sehr oft wird aufgrund von Vorurteilen nichts für sie getan. Jair Bolsonaro, Brasiliens Präsident, hat die Entsendung von Sozialarbeitern in die Favelas eingestellt und schickt stattdessen Polizeikräfte, mit dem Ergebnis, dass die Kinder, vor allem die Jungen, lernen zu kämpfen und gewalttätig zu sein. Dass es auch anders geht, zeigte der frühere Präsident Lula da Silva: Er entsandte Künstler und Sportler in die Favelas, mit dem Ergebnis, dass 50 % der Kinder motiviert waren, zur Schule zu gehen. Hier zeigt sich die enormen Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Auslösung und Förderung der Resilienz.

PORTRÄT
Boris Cyrulnik wurde am 26. Juli 1937 in Bordeaux geboren. Er ist Autor zahlreicher Bücher über Psychologie und Lebensgeschichten und eine französische Medienpersönlichkeit. Er ist Neuropsychiater und Psychoanalytiker, leitete eine Forschungsgruppe in klinischer Ethologie am interkommunalen Krankenhauszentrum Toulon – La Seyne-sur-Mer und ist Studienleiter für das Universitätsdiplom in Humanethologie an der Universität Toulon.
Er hat das Konzept der «Resilienz» aus den Arbeiten von John Bowlby einem breiten Publikum zugänglich gemacht (Wiedergeburt aus dem eigenen Leid). Boris Cyrulnik betrachtet die Ethologie in erster Linie als «Schnittstelle von Disziplinen».

Er ist Mitglied des Ehrenausschusses des französischen Vereins für das Recht auf einen würdevollen Tod (ADMD) und engagiert sich auch für den Natur- und Tierschutz.

DAS INTERVIEW FÜHRTE Kessava Packiry
FOTO Getty images 

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