sante mentale et détention

Psychische Gesundheit und Freiheitsentzug

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für den Justizvollzug (SKJV) hat im Dezember 2021 das «Handbuch psychiatrische Versorgung im Freiheitsentzug» veröffentlicht. Das Handbuch enthält eine Zusammenstellung bewährter Verfahren zur Verbesserung der Versorgung von Personen mit psychischen Störungen in den Gefängnissen. Dr. Devaud Cornaz, Leitende Ärztin im Zentrum für forensische Psychiatrie des FNPG und Leiterin der Abteilung für Therapien, erläutert das Thema der psychiatrischen Versorgung im Zusammenhang mit strafrechtlichen Sanktionen.

Wie ist die psychiatrische Versorgung beim Haftantritt üblicherweise ausgestaltet?

Zuerst führt eine Pflegefachperson des medizinischen Dienstes des Gefängnisses mit den neuen Insassen eine Eintrittsuntersuchung über somatische Aspekte, übertragbare Krankheiten, Suchtfragen und Fragen zur psychischen Gesundheit durch. Je nach Ergebnis wird die Situation dem FNPG gemeldet, das dann so schnell wie möglich einen Termin für ein Evaluationsgespräch vereinbart.

Und danach?

Das FNPG gewährleistet die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung aller Insassen sowie von Verurteilten in der Bewährungszeit. Diese Versorgung umfasst zum einen psychiatrische Konsultationen zur Aufrechterhaltung oder Anpassung von Psychopharmaka-Verschreibungen und Opioid-Agonisten-Therapien für Insassen; und zum andern Psychotherapien und ein Case-Management durch Psychologinnen und Psychologen und Pflegefachpersonen unter der Leitung von Psychiaterinnen und Psychiatern. Die Leistungspalette umfasst Kriseninterventionen mit Evaluation und Protokollierung nach dem Standard der Westschweizer Gruppe für Suizidprävention beim Haftantritt, Hilfe bei jeder Form von psychischer Dekompensation zu Beginn und während der Haft, die Evaluation und Begleitung disziplinarischer Isolationshaft, suchtmedizinische therapeutische Gruppen und ambulante Langzeittherapien.

Was ist der Zweck des «Handbuchs psychiatrische Versorgung im Freiheitsentzug»?

Es bezweckt eine Vereinheitlichung der Praxis in den rund hundert Gefängnissen in der Schweiz. Es richtet sich sowohl an die Entscheidungsträger der Gefängnisse als auch an die Anbieter der psychiatrischen Versorgung aller Kantone.

Welche konkreten Vorschläge enthält es?

Es wird vorgeschlagen, den Zugang zu Weiterbildungen und interprofessionellen Workshops zu fördern. Ausserdem wird vorgeschlagen, die Reibungslosigkeit der Versorgungsleistungen in den Gefängnissen zu verbessern, indem den Entscheidungsträgern der Gefängnisse empfohlen wird, die Zusammenarbeit mit den Versorgungsanbietern der einzelnen Kantone vertraglich zu regeln, wie dies im Kanton Freiburg getan wurde. Die neuen Vereinbarungen zwischen der Direktion für Gesundheit und Soziales und der Sicherheits-, Justiz- und Sportdirektion wurden im November 2020 unterzeichnet.

«Die Vereinheitlichung der Praxis ermöglicht die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung im Freiheitsentzug. »

Hat die Zahl der Insassen mit psychischen Problemen in Freiburger Gefängnissen zugenommen?

Die Prävalenz chronischer psychischer Störungen wie schizophrener Verläufe (5–7 %), Anpassungsstörungen (30–40 %) und Abhängigkeitserkrankungen (40–50 %) bleibt stabil. Verglichen zur Allgemeinbevölkerung ist die Prävalenz psychischer Störungen bei Insassen jedoch nach wie vor sehr hoch. Erklären lässt sich der Unterschied teils durch das Eingesperrtsein, die Trennung von den Angehörigen und das Zusammenleben auf engstem Raum. Da ein immer grösserer Teil der Insassen nach Verbüssung ihrer Freiheitsstrafe weggewiesen wird, nehmen Angst- und depressive Anpassungsstörungen in Verbindung mit selbstschädigendem oder einschüchterndem Verhalten stetig zu. Dies beansprucht die psychiatrischen Teams des FNPG zunehmend, was zuweilen zu Lasten der Versorgung anderer Insassen oder der ambulanten forensischen Versorgung geht, wobei letztere von den verschiedenen Partnern wie der Staatsanwaltschaft, dem Polizeirichter, dem Zwangsmassnahmengericht und Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten immer stärker nachgefragt wird.

Haben sich die psychischen Probleme der Insassen in den letzten Jahren verändert?

Wie oben angesprochen, sind es die Anpassungsstörungen im Zusammenhang mit Wegweisungen, die die psychiatrischen Dienstleister zunehmend beanspruchen. In den letzten rund zwei Jahren sind weitere besorgniserregende Phänomene aufgetreten. Dazu gehören die Methamphetamin-Abhängigkeit und eine Zunahme schizophrener Störungen unter jungen Insassen, die wegen ihres Migrationshintergrundes besonders schlecht integriert sind und durch die Maschen des aktuellen psychiatrischen Versorgungsnetzes fallen. Diese enden oftmals nach kleineren Delikten in einer Strafanstalt, oftmals in einem psychischen Zustand, der höchstwahrscheinlich eine Klinikeinweisung zur Folge gehabt hätte, wenn die betroffene Person zu einer anderen Bevölkerungsgruppe gehört hätte. Infolge von Rationierungseffekten hat diese Kategorie von Insassen jedoch keinen Zugang zu stationären Infrastrukturen, weshalb das Handbuch die Empfehlung enthält, dass auch solche Insassen Zugang zu forensisch-psychiatrischen Angeboten haben müssen.

 Psychische-Gesundheit-und-Freiheitsentzug

Hat sich die psychiatrische Versorgung im Freiheitsentzug in den letzten Jahren verändert?

Seit 2013 hat sich das Team der Abteilung für Therapien des Zentrums für forensische Psychiatrie des FNPG stetig weiterentwickelt. Nachdem es ganz am Anfang zwei Teilzeitstellen (1,3 VZÄ) umfasste, wird es nun rund 14 Mitarbeitende zählen (fast 8 VZÄ), sobald alle Stellen besetzt sein werden. Dennoch gibt es auf der Ebene der Erbringung dieser Leistungen des FNPG noch Optimierungspotenzial. Das aktuelle Projekt zum Ausbau der Strafanstalt Bellechasse wird in naher Zukunft dazu beitragen, einen Mangel an Räumen zu beheben. Darüber hinaus setzen die neuen Ansätze den Fokus vermehrt auf das Case-Management und auf den Einbezug theoretischer Grundlagen, die sich im Strafvollzug bereits bewährt haben (therapeutische Gruppen; bifokale, integrierte, dialektisch-verhaltenstherapeutische und deliktfokussierte Therapien). Schliesslich ist eine enge interprofessionelle Zusammenarbeit mit den Gefängnissen, der Kriminologie und dem Amt für Justizvollzug und Bewährungshilfe (JVBHA) wünschenswert und wird gegenwärtig ausgebaut, was ebenfalls Ressourcen beansprucht.

Psychische Störungen im Freiheitsentzug können zu Suiziden führen. Wie kann man dies verhindern?

Suizidprävention umfasst auch die Verbesserung der Kontinuität der psychiatrischen Behandlung. Dies setzt eine Stärkung der ambulanten Strukturen voraus, die unverzügliche Benachrichtigung des FNPG über Insassen mit psychischen Problemen und genügend psychiatrisches Personal für die zeitnahe Untersuchung der betreffenden Insassen im Gefängnis.

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Expertin
Dr. Corinne Devaud Cornaz

Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Corinne Devaud Cornaz ist Leitende Ärztin im Zentrum für forensische Psychiatrie des Kantons Freiburg. Sie leitet die Abteilung für Therapien. Das Zentrum gehört zum FNPG und umfasst die Abteilung für psychiatrische Begutachtung und die Abteilung für Therapien.

DAS INTERVIEW FÜHRTE Kessava Packiry
FOTO Nicolas Repond

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